Ismael-Morgen eines Fauns

Ismael saß am Küchentisch, sein schweres Haupt auf seine Hände gestützt, die rote Zunge weit aus seinem Mund auf die Tischplatte herabhängend, wo er mit seiner Zungenspitze unsichtbare Botschaften an ein nicht vorhandenes Publikum schrieb. Er rollte seine Zunge ein und seufzte, kratzte sich hinter seinem rechten gebogenen Horn und wartete. Wo war sie denn, dieses wunderbare Wesen?

Die Uhr an der Wand tickte leicht empört auf: „Sagen Sie? Finden Sie das nicht ein wenig unverschämt?“
Ismael zuckte zusammen, blickte verwundert, aber auch leicht verschämt auf: „Wie meinen Sie?“
Die Uhr, übrigens eine blau-weiße Großvateruhr mit einem verspielten Kuckkuckswerk, tickte eindringlich weiter: „Sie können doch nicht einfach so hier auftauchen und sich an den Tisch setzen, und mit ihrem Gesabbere die antike Tischplatte verhunzen: Alles was recht ist! Was wollen sie hier denn eigentlich?!“
Ismael noch beschämter zuvor, strich sich sein zerzaustes weißes Fell zurecht. Tatsächlich wirkte er in dieser so properen , blankgeputzten Küche etwa so fehl am Platz wie ein rotkarierter Phönix in einer Zoohandlung, aber auch dergleichen wollen manche schon gesehen haben. Mit seinen Bocksbeinen scharrte er über den Küchenboden, dann blickte er wieder auf zur Küchenuhr und seufzend entrang es sich seiner Brust:

„Aber sie ist doch so schön! Was hätte ich denn tun sollen? Ich musste ihr einfach folgen!“
Worauf die Uhr schnarrend erwiderte: „Es ist wirklich unerhört! Ihresgleichen sollte dort bleiben, wo es hingehört! Und nicht einfach so bei Tageslicht auftauchen. Haben Sie da, wo Sie herkommen, nicht auch irgendwelche Vorschriften? Einfach so als Traumstückchen in der Wirklichkeit aufzutauchen, da bringen sie alles durcheinander!“  Sie hielt inne, um Luft zu holen.
„Wie haben sie das denn überhaupt zustande gebracht?“ tönte die Uhr nun nach dem ersten Ausbruch ihrer Empörung etwas wohlwollender.

Wieder seufzend erhob Ismael seine helle, jungenhafte Stimme – trotz seiner großen Hörner war er ja doch nur ein junger Faun, kaum 200 Sommer alt:
„Ja, wissen Sie…eigentlich weiss ich das nicht. Ich und meine Freunde tanzten ausgelassen in einem Bottich voll mit Weintrauben, die Nymphen ließen sich bei uns nieder,“ der kleine Faun lächelte, „Der Sommermond schien hell und rund. Da kam sie auf einmal her, zunächst sah ich nur ihr Gefährt, so ein Ding mit zwei Räder, eines viel höher als das andere, und sie schwankte ganz oben auf dem großen Vorderrad in der Luft…ein wirklich komischer Anblick…wir wollten gerade einen Scherz daraus machen, da landete sie auch schon – platsch! –  in unserem Bottich. Himmel, was für ein Anblick!“ Er grinste. „Erst hab ich mir noch gedacht…aber dann als sie so aus dem Beerenmatsch hervorlugte!“ Ein schmachtender Blick legte sich auf sein Gesicht. „Wie entzückend sie doch war! Leider hat sie mich gar nicht bemerkt!“ seufzte er voll Inbrunst, bevor es weiter aus ihm heraus sprudelte: „Sie war sehr in Eile, dann flimmerte sie langsam vor mir und ich dachte mir…hoppla, die gehört hier aber nicht zu uns! Und dann ich weiss nicht, bin ich ihr gefolgt, sie flimmerte noch ein paar Mal, dann ging ein leuchtendes Tor auf, da wusste ich: Sie wacht gleich auf! Und dann bin ich ihr nach! Und nun sitze ich hier…und warte!“
Hätte die Uhr gekonnt, hätte sie den Kopf geschüttelt, aber so sprang ihr Zeiger etwas zu früh von 6 Uhr 30 auf 6 Uhr 31, und sie ließ sich wieder hören: „So und nun sind Sie hier? Was nun? Sie haben doch schon bemerkt, dass sie Sie nicht sehen kann! Außerdem was wird mit Ihnen nun hier? Sollten Sie nicht wieder zurück?“

„Oh je, wenn ich das nur wüsste, aber ich habe noch nie von so einem Fall gehört, sehen Sie, es sollte eigentlich unmöglich sein, von dort hierher zu gelangen!“ Verlegen fügte er hinzu: „Und ja, ich hab es auch schon bemerkt. Wo ist sie eigentlich hin?“
Ins Bad sei sie verschwunden, aber das gehe ihn ja wohl nichts an, ermahnte ihn die Küchenuhr.
„Ins Bad!“ seufzte der Faun und malte sich vor seinen Augen ein entzückendes Bild aus, als seine Fantasien dadurch unterbrochen wurde, dass sein Körper sich mehrmals flackernd langsam aufzulösen begann.
Vor lauter Schreck sprang der Minutenzeiger der Uhr gleich fünf Minuten auf einmal weiter: „Grundgütiger, Sie lösen sich ja auf!“

Da war auch nur noch ein durchsichtiger Schatten von dem Faun übrig.
„Aber schön war sie doch!“ sprach der Faun und verschwand er mit einem letzten Aufflimmern gänzlich.
Die Küchenuhr beruhigte sich mit langsamen Geticke wieder. Draußen fiel eine Türe ins Schloss.
„So ein Unfug“, dachte die Uhr und tickend schlief sie ein.

Elisa Wagner – Ismael – Morgengrauen eines Fauns

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