Das Gummibärchen-Märchen

Folgendes Märchen entstand vor langer Zeit in einer schwülen Sommernacht auf der Jesuitenwiese im Prater. Ich hatte das Bild eines liebeskranken, suiziden Gummibärchens vor Augen. Gestern habe ich die Geschichte endlich geschrieben – während einer der kurzen Schlafphasen Noahs. Vermutlich hat mich die Schwüle an die Geschichte erinnert –  das und mein Heißhunger auf Süßes. Beim Schreiben hatte ich eine Art Hans-Christian-Andersen-Märchen vor Augen, meine Schwester meint, es fühle sich mehr nach Roald Dahl an.

Na ja, viel Spass beim Lesen!

Das Gummibärchen-Märchen

Ein kleines, rotes Gummibärchen saß seufzend am Rand einer dampfenden, heißen Suppenschüssel und blickte auf die tief unter ihm schwimmenden Fettaugen. So weit hatte ihn die Liebe gebracht! Er blickte hinunter, seufzte noch einmal und drehte den Kopf über seine Schulter, blickte auf die andere Seite der Küche, wo eine Kommode stand. Dort, in der zweiten Schublade von oben, war sein Zuhause gewesen. Dort lebte auch sie, die ihn verschmäht hatte. Sie, die ihre Jungfräulichkeit für jemand Besseren mit besseren Aussichten aufheben wollte.

“Für jemand Besseren … wer mochte das wohl sein? Ein Suppenwürfel!” dachte er grimmig, als er in die Schüssel blickte. Auf jeden Fall hatte das leckere Butterkekschen seine Liebe zurück gewiesen und sich ihm nicht hingegeben. Sollte sie doch nur in ihrer Schublade vertrocknen! Er würde mit seinem Liebestod in die Geschichte der berühmtesten Liebestragödien der Süßigkeiten eingehen.

Es hatte viel Mut erfordert, sich aus der Schublade zu schmuggeln, dann den Weg über den Küchenboden zurück zu legen. Die Tatzen einer Katze hatten ihn spielerisch über den Boden geschossen. Welch ein Wagnis! Aber er war diesem Untier entkommen und floh über das Tischbein hinauf. So weit weg! Und nun war er hier – auf der Tischplatte –  und beugte sich über den Abgrund der Schüssel. Ihm schauderte! Sollte er wirklich sein junges Leben verschwenden, wenn eine so große Welt vor ihm lag, was konnte er nicht noch alles erleben? Er dachte nach.

Während unser Gummibärchen derartig tief gehende Entscheidungen zu fällen hatte, lief die naschsüchtige Mutter des Hauses in die Küche, öffnete die Schublade und schrie auf: “Schatz, haben wir denn gar keine Gummibärchen mehr?!”
“Ich glaube, die Kinder haben sie gestern zum Film aufgegessen. Außerdem essen wir doch gleich zu Mittag, du bist schlimmer als die Kleinen!”
Traurig blickte sie auf ein trockenes Butterkekschen, das ganz hinten in der Schublade lag und wohl beim gestrigen Filmabend übersehen worden war.
“Besser als nichts, “ dachte sie und mit zwei, drei Bissen war die jungfräuliche Keksdame vernascht. Ein besseres Schicksal hatte sie ereilt.
Die Familie versammelte sich zum Mittagstisch. Die leckere Rindsuppe dampfte auf seiner Mitte. Das Gummibärchen erhob sich und schüttelte quasi symbolisch sein Liebesleid von sich. Der kürzliche Tod seiner Geliebten war ihm entgangen. Nein, er war zu jung zum Sterben, er würde die Welt erobern und Entdeckungen machen. Mit einem Lächeln erhob er sich und wollte auf das Tischtuch hinunter gleiten. Da tönte es: “Schatz, da ist doch noch tatsächlich ein Gummibärchen auf dem Tisch!”
“Ach, wie schön.” Eine lange, feine Hand streckte sich nach dem roten Gummibärchen aus und Sekunden später war es dem Schicksal der Keksdame gefolgt.
“Das war viel leckerer als der jämmerlicher Butterkeks!”
“Aber Mama, doch nicht vor dem Essen!” regten sich die Kinder auf.
Das Gummibärchen hörte davon nichts mehr, aber vielleicht hätte es sich gefreut, zu wissen, dass es was Besseres als die Keksdame war.

Und hier findest Du die Geschichte auch als pdf zum Runterladen: Das Gummibärchen-Märchen

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