Weiß wie Schnee – ein Wintermärchen

Der Winter ist für mich immer eine geheimnisvolle Zeit, die Zeit der Märchen. Winter, Schnee, Raben, das alles scheint in meinem Kopf dicht verwoben und sind Stoff für mein Gedankentheater. Diesmal möchte ich eine meiner Geschichten mit euch teilen. So eine Art Vorweihnachtsgeschenk von mir an euch. Vorlage für die Kurzgeschichte ist ein altbekanntes Märchen – allerdings ohne die eigentliche Hauptprotagonistin. Die Geschichte schrieb sich erstaunlich schnell.

Eine schöne, magische Winterszeit wünscht euch,

eure Elisa

Weiß wie Schnee – ein Wintermärchen von Elisa Wagner

In ihrer Kammer hoch oben im Turm saß die Königin an ihrem Fenster und blickte hinaus in die weite Schneelandschaft. In ihren Händen hielt sie einen Stickrahmen. Mit goldenem Faden hatte sie unter das königliche Wappen die Initialen ihres Gatten und ihre eigenen verschlungen zu einem Liebesknoten gestickt. Aber in der königlichen Kammer war es kalt. „Kalt wie mein königlicher Gatte,“ dachte sie. Ihre Hände zitterten, während sie stickte. Da stach sie sich in den Finger und Blut tropfte herab. Sie ging zum Fenster, das offen stand, der Grund für die Kälte. Sie zog ihren Wollumhang fester um sich. Ihr widerstrebte es sehr, das Fenster zu schließen. „Wie gerne wäre ich frei,“ dachte sie. In der Ferne zog ein Schwarm Vögel vorbei und sie streckte ihre Hand in ihre Richtung aus: „Nehmt mich doch mit!“ Dann ließ sie die Hand sinken und stützte sich auf das Fensterbrett. Da entdeckte sie, dass Blut von ihrem Finger auf das verschneite Fensterbrett herab getropft war. „Wie schön,“ dachte sie, „Ach, hätte ich doch ein Kind mit Lippen Rot wie Blut, Haut Weiß wie Schnee und Haaren…“ Doch weiter kamen ihre Gedanken nicht, in diesem Augenblick landete ein Rabe auf ihrem Fensterbrett, genau neben ihrer Hand.
„Was willst du denn hier?“ fragte sie erstaunt. Der Rabe blickte ihr tief in die Augen. „Kein bisschen scheu? Du musst hungrig sein. Warte ich hol dir ein Stück Brot.“ Sie drehte sich um und lief zum Tischchen neben ihrem Bett, wo noch Brotkrumen auf einem Teller lagen. Da hörte sie eine raue, aber warme Stimme sagen: „Komm mit mir!“ Und als sie sich umdrehte, erstaunte sie sehr.
Als am nächsten Tag der König heimkehrte – er war lange auf Jagd gewesen – musste er erfahren, dass seine schöne Frau verschwunden war. Er war überrascht und verärgert, aber man fand keine Spur von ihr. Übers Jahr nahm er sich eine neue Frau, ebenso schön, vielleicht etwas weniger unschuldig, aber wesentlich gefälliger. Sie brachte einen Spiegel mit sich, in dem sie sich jeden Tag bewunderte und den sie fragte: „Spieglein, wer ist die Schönste im Land?“ Und da es niemanden schöneren gab, war die Königin stets gut aufgelegt und sogar bisweilen freundlich. Nur einmal, als sie schon älter war, wagte ihr der Spiegel zu antworten: „Frau Königin, Ihr seid die schönste hier, aber die Prinzessin der Raben ist tausendmal schöner als Ihr!“ Im ersten Moment blickte die Königin überrascht und zornig, dann aber brach sie in schallendes Gelächter aus und sagte: „Die Prinzessin der Raben?! Du dummer Spiegel, wen interessieren schon Raben? Komm mir bloß nicht wieder damit!“ Und weil der Spiegel Angst vor der Königin hatte, erwähnte er die Rabenprinzessin nie wieder.
Als der Prinz des Nachbarlandes vorbei zog, fand er weder eine schöne, junge Prinzessin vor, noch eine hübsche Magd. Und so zog er rastlos weiter, er fühlte sich leer. Er war ein guter Kämpfer, der beste Jäger des Landes, ein hervorragender Reiter und so gut sah er aus, dass ihm sämtliche Prinzessinnen und Dienstmädchen der Welt zu Füßen lagen – und er hatte sie alle, aber trotzdem fühlte er sich leer, als würde ihm etwas fehlen, dass er nicht finden konnte. Von seiner Brautschau brachte er keine Braut heim, er ritt durch das verschneite Land nach Hause zurück – allein über ein weites Feld. Da sah er einen Hasen, schoss nach ihm, aber streifte  ihn nur. Der Hase war verwundet, aber entkam. Der Prinz  war verärgert und ritt weiter. Als er zu der Stelle kam, an der er den Hasen verwundet hatte, stieg er ab, um seinen Pfeil auf zu heben. Da sah er Blutstropfen im Schnee und ein seltsames Weh überkam ihn. „Lippen Rot wie Blut“, dachte er, „Haut Weiß wie Schnee. Haare…“ Da landete vor ihm in Schnee ein Rabe. Der Prinz kniete noch immer im Schnee, den Pfeil in der Hand. Da verwandelten sich vor seinen Augen die Vogelkrallen in zwei schneeweiße, zarte Füße – nackt im weißen Schnee. Der Prinz sprang überrascht auf. Vor ihm stand ein wunderschönes Mädchen mit langen schwarzen Haaren wie die Federn der Raben und schneeweißer Haut, ihre Lippen leuchteten rot und verlockend. Über ihre Schultern fiel schwer ein Umhang aus Rabenfedern, außer ihm schien sie nichts am Leibe zu tragen. Der Prinz war sprachlos. Das Mädchen aber sprach: „Du bist mein!“ und streckte ihre Arme nach ihm aus. Er ließ sich von ihr unter den schweren Umhang ziehen und küsste sie.  Nur ein Rascheln mehr nicht, dann flogen zwei Raben zum weißen Winterhimmel hinauf. Das Ross des Prinzen schnaubte und schüttelte den Kopf, dann machte es sich weiter auf den Heimweg.
Nur hinter den sieben Bergen wartete ein kleines Häuschen vergeblich darauf, dass eine zarte Hand den Staub der Zeit weg wischen würde.

Eine Antwort auf „Weiß wie Schnee – ein Wintermärchen“

Schreibe einen Kommentar zu Lilly Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.