Die Maus und die Schneeeule

Das alte Jahr ist mit Raketenkrach und Walzertönen ausgetrieben worden, das neue Jahr kriecht langsam aus dem Nebel hervor.

Möge es für euch alle eine glückliches Jahr werden! Ich kenne nicht viele Märchen und Erzählungen zum Jahreswechsel, drum poste ich hier für euch eine Fabel, die ich letzte Woche geschrieben habe. Sie basiert auf einem Bild, das in mir aufstieg, als der Vollmond durch unser Schlafzimmerfenster schien, und rasend schnelle Wolken eine Art Schattentheater vor seinem Licht aufführten. Außerdem basiert sie auf einem Lied, das ich sehr liebe – das auch gut zu dieser Zeit der Wandlungen passt. Wer dieses Lied erkennt, der weiss, um welche Stadt mit vielen Türmen es sich am Ende der Geschichte handelt.

Aber nun genug – eine frohes, neues Jahr euch allen und Vorhang auf für:

Die Maus und die Schneeeule

„Da wärest du nun beinahe vom Waldkauz gefressen worden, was?“ krächzte die alte Eule der kleinen Waldmaus zu, die neben ihr auf einem Ast hoch oben in einer Fichte saß. Ihre Silhouetten zeichneten sich vor dem Licht des winterlichen Vollmondes ab. Die kleine Maus blickte zur Eule auf: „Und nun werde ich etwa nicht gefressen?“  „Was meinst du, meine kleine Maus?“ fragte die alte Eule. „Ich denke nicht,“ gab das Mäuslein zurück. Die Eule lachte ein kehliges Lachen: „So,so, das denkst du also – und warum nicht?“ „Weil du mich dann schon längst gefressen hättest.“ Die Augen der Eule funkelten: „Vielleicht überlege ich es mir ja noch, nicht wahr?“ Die Maus verstummte. Beide schauten sich schweigend an. Es war die Eule, die als erstes ihren Blick abwandte. Sie blickte auf die Schnee bedeckte Landschaft vor sich. Dann seufzte sie: „Keine Angst, kleine Maus, ich werde dich nicht fressen.“ Und weil ihrem Satz nichts weiteres folgte, fragte die Maus mit leiser Stimme: „Warum hast du mich dann vor dem Waldkauz gerettet?“ „Warum…“ wiederholte die Eule, „Warum, warum , warum….“ Nach einer weiteren Pause antwortete sie: „Warum, kleine Maus, hast du keine Angst vor mir, hm? Warum läufst du nicht davon, sag mir das!“ Die Maus blickte verlegen: „Ich weiß nicht…“
Die Eule fragte: „Weißt du, wer ich bin?“  Das Mäuschen betrachtete das weiße Gefieder der Eule:„Eine Schneeeule?“ Die gelben Augen der Eule blitzten auf. „Eine Schneeeule? Wie viele Schneeeulen hast du schon gesehen?“ „Außer dir… keine.“ antwortete das Mäuschen. „Stimmt“, sagte die Eule zufrieden „Ich bin die einzige hier. Siehst du, Schneeeulen leben normalerweise nicht in Wäldern… zu wenig Platz, zu klein, zu warm, zu wenig Freiheit. Schneeeulen leben normalerweise hoch oben im Norden, nicht hier, wo es im Sommer zu grün ist.“ „Was machst du dann hier?“ fragte das Mäuslein erstaunt. „Ja, das ist die Frage.“ gab die Eule nickend zurück. Während sie nickte, schloßen sich ihre Augen zu einem schmalen Spalt. „Sie wird doch nicht einschlafen?“ wunderte sich die Maus.
Doch dann antwortete die Schneeeule: „Vor langer Zeit war ich keine Eule, ich war ein anderes kleines, pelziges Tier und huschte auf allen vieren auf dem Waldboden herum. Doch eines Nachts, als ich durch den Wald lief, lauerte mir ein Fuchs auf. Ich starrte ihn an, aber lief nicht davon. Ich dachte, nun ist der Moment gekommen und dann – dann lief ich auf ihn zu. Genau in dem Moment rauschte ein Schatten auf uns herab, packte mich mit seinen Krallen und trug mich auf eine Baumspitze hinauf. Es war eine große, weiße Eule.“ Die Maus riss die Augen auf und rief aus: „Wie? Genau wie bei mir gerade eben?“  Die Eule blickte der Maus tief in die Augen. Die Maus schwieg wieder. Die Eule fuhr fort: „Wir saßen – genau wie du und ich jetzt-  hoch oben auf einem Ast und blickten ins Tal hinab. Die große, weiße Eule sagte mir: ‚Du bist mutig, aber bist du auch mutig genug der Schutzgeist dieses Waldes zu werden?‘“
Die alte Eule unterbrach an dieser Stelle ihre Erzählung. Das Mäuslein starrte sie an und weil nichts mehr kam, fragte sie: „Was hast du geantwortet?“ „Wenn du mich so ansiehst, was denkst du?“ raunte die Eule der Maus ins Ohr, „Meine Frage ist, was ist deine Antwort?“ „Meine Antwort?“ „Ja, bist du mutig genug der Schutzgeist dieses Waldes zu werden?“ „Aber ich bin doch so klein?! Wie kann ich da jemanden beschützen?“ Die Eule lachte vor sich hin und sang ganz, ganz leise: „Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine… Die Nacht hat zwölf Stunden, dann…“ Sie unterbrach sich: „In jedem von uns steckt ein Licht, dass größer ist als unser Schein. Denkst du, ich bin wirklich nur diese kleine Eule, die du hier siehst?“ „Ich finde dich nicht klein,“ flüsterte die Maus, „Du bist groß und schön.“ „Genau wie du, kleine Maus, genau wie du. Aber nun genug, bald kommt schon der Tag. Lauf, kleine Maus und nimm Abschied von deinem Leben.“ Die Maus erschrak und blickte auf zur Eule. Da sah sie, dass die Eule von unten nach oben zu Eis erstarrte. Noch einmal hörte sie ihre Stimme: „Lauf, kleine Schwester, lauf!“
Und die Maus lief den Baum hinab und lief so schnell sie konnte und während sie lief, verlor sie langsam den Boden unter den Füßen und wuchs und wuchs, bis ihre weiten Schwingen sie hinauf zum Himmel trugen, der langsam unter den ersten Strahlen der Sonne errötete. In der Ferne sah sie Wälder, einen großen Fluss und eine Stadt mit vielen Türmen.
Hoch oben aber auf dem Wipfel der Fichte schmolz unter den gleichen Sonnenstrahlen die alte Eule und nichts blieben als Wassertropfen, die in der Kälte, die der Schatten der nächsten Wolke mit sich brachte, wieder zu winzigen Eiszapfen erstarrten.

Eine Antwort auf „Die Maus und die Schneeeule“

  1. Die Wasser der Moldau bringen edle,aber melancholische Kreaturen hervor… Frohes neues Jahr!!! (Meines begann mit einer Doku über Eulen ;-))

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