Straßenmusik

Die Zeit der Rauhnächte ist für mich die Zeit der Geschichten, der Märchen, wo wir uns in unsere Höhlen zurück ziehen und uns mit unseren Erzählungen den kalten grauen Winter vom Leib halten. Diese Geschichte hat schon länger darauf gewartet, geschrieben zu werden.

Straßenmusik

Auf der Straße, dort wo der Nebel noch nicht so dicht war, stand mitten in der klirrenden Kälte ein alter Akkordeonspieler. Er trug einen grauen schäbigen Mantel und einen grauen verbeulten Hut – grau von Alter, wer weiss, was die ursprüngliche Farbe einst war. Sein graues Haar fiel ihm halb lang ins Gesicht. Seine Augen waren geschlossen. Seine Hände steckten in fingerlosen Handschuhen und die Fingerspitzen waren blau-violett. Trotzdem rasten sie in eilender Geschwindigkeit über die Tasten hinweg, wie um gegen die Kälte anzukommen. Der  Schnee um ihn fiel langsam. Ihm gegenüber saß ein kleiner Junge in einer abgetragenen Schuluniform, dem Aussehen nach mochte er vielleicht acht oder zehn Jahre alt sein. Er lauschte begeistert der Musik des Akkordeonspielers – seine Augen waren strahlend vor Freude und sein Mund war ein einziges großes Lächeln.
Als der Straßenmusiker am Ende des Stückes angelangt war und der letzte Ton verklungen war, klatschte der kleine Junge vor Freude in die Hände und rief: „Das war ja toll! Das war der Teufelscsárdás von Monti, oder?“
Der alte Mann, öffnete die Augen und blickte den Jungen an, dann zog er spöttisch die Augenbrauen hoch und sagte: „Teufelscsárdás? Hah, davon weiss ich nichts, aber es ist der Csárdás von Monti, ja!“
„Dachte ich es mir doch, den hat mein Opa immer gespielt! Aber er nannte ihn immer den „verflixten Teufelscsárdás“, daran erinnere ich mich noch genau!“
„Und nun spielt ihn dein Opa nicht mehr? Ist er schon tot?“ fragte der alte Musiker.
„Natürlich ist er tot. Er starb, als ich neun war, das ist schon lange her! Aber er war auch ein sehr guter Musiker, so wie Sie!“
Der Akkordeonspieler lächelte, dann betrachtete ihn nachdenklich: „Schon lange her, wie? Was war denn dein Lieblingsstück, vielleicht kann ich es spielen, hm?“
„Wirklich, das würden Sie tun?“ der Junge war begeistert. „Ich muss nachdenken… wie hieß das Stück… hmmm, wie war das noch gleich?“ Er schloss die Augen und dachte eine Weile nach, dann summte er eine Melodie vor sich hin. Als er fertig war, machte er die Augen auf und fragte verlegen: „Kennen Sie das Stück, können Sie das spielen?“
„Das habe ich schon lange nicht mehr gehört, ist sicher schon ein paar Jahrzehnte her…“dann fing er an, mit sachten Fingern eine langsame, melancholische Melodie zu spielen. Die Töne schwebten durch die weiße Welt von Nebel und Schnee und wieder schien es, als wäre die Zeit stehen geblieben, aber davon merkte der Junge nichts. Er und der Musiker waren eins in der Melodie. Als die Musik zu Ende war, rannen dem Jungen Tränen über die Wangen: „Danke, das war wunderschön…“ Nach einigem Schweigen fuhr er fort: „Das Stück hat mein Großvater für mich an meinem neunten Geburtstag gespielt, am nächsten Tag ist er gestorben. Ich hab es seitdem nicht mehr gehört…“
Der alte Musiker blickte den Jungen verständnisvoll an und nickte lächelnd. Der Junge wurde verlegen und wandte sich ab. Dabei fiel sein Blick vor ihm auf den Boden und er bemerkte, dass der alte Musiker barfuss im Schnee stand. „Ja, aber ist Ihnen denn nicht kalt!?“ rief er besorgt aus, „Es ist doch Winter!“
Der alter Straßenmusiker lachte und gab zurück: „Nein, mir kann die Kälte ebenso wenig anhaben wie Dir… aber danke der Nachfrage! “ und er zwinkerte ihm zu und deutete auf die kurzen Hosen des Jungen. Überrascht blickte der Junge an sich hinunter: „Aber wie?!“ Der Junge trug eine Sommeruniform mit kurzen Hosen und Kniestrümpfen. „Wie kann das sein?!“ Er blickte den Musiker fragend an. Dieser streckte seinen rechten Arm aus und deutete auf etwas, das hinter dem Jungen war. Der Junge drehte sich um.
Und auf einmal war es vorbei mit der Stille, die scheinbar angehaltene Zeit lief weiter. Es war auf einmal sehr laut und aufgeregt und hektisch. Auf der Straße stand ein Krankenwagen mit Blaulicht und ein Polizeiwagen. Einige Leute standen herum und waren sehr aufgeregt. Ein ältere Frau wandte sich an einen Passanten neben ihr: „Der arme, alte Mann, was ist passiert? Er ist doch nicht tot?“ Der Junge hörte die Antwort nicht, er sah wie einige Sanitäter einen alten Mann auf einer Bahre in den Krankenwagen hoben.  Erst blickte er entgeistert auf die Szene vor sich, dann schluckte er, seufzte.
Er drehte sich wieder zum Akkordeonspieler um. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete ihn von oben bis unten. Irgendwie sah der alte Musiker anders aus als zuvor.  War das wirklich ein zerfetzter Mantel, oder waren das nicht eher Federn? Und waren die Haare wirklich grau oder nicht doch blond oder eher weiß leuchtend wie Licht? War das wirklich ein alter herunter gekommener Straßenmusiker, oder…? Er konnte es nicht sagen.
Der Akkordeonspieler sagte: „Wollen wir uns auf den Weg machen?“ und reichte dem Jungen seine linke Hand, in der rechten hielt er noch immer das Akkordeon. Nach einer kurzen Pause nickte der Junge. Er griff nach der Hand seines Gegenübers und sie gingen los. Die Zeit um sie herum stand still, die fallenden Flocken berührten den Boden nicht. Der Junge summte die Anfangstöne seiner Melodie, dann blickte er zu seinem Begleiter auf und dachte: „Definitiv Flügel und kein Mantel…“  Schließlich sagte er laut: „Morgen wäre ich fünfundneunzig geworden…“ und fügte mit einem melancholischem Lächeln hinzu: „Danke für das schöne Geschenk.“
So gingen sie die Straße hinunter und verschwanden im Nebel.